Sonntag, 28. Oktober 2018

Zeit

Die Zeit ist ein merkwürdiges Konstrukt.
Heute vor vier Jahren war Paul noch lebendig. Wenige Stunden später war auch er tot.

Ich versuche mich reinzudenken in diese letzten kostbaren Stunden und Momente.
Lese meine alten Tagebucheinträge, und bin erschüttert wie gefasst und ja, unter Schock ich diese geschrieben habe.

Die Gedanken waren ganz klar, aber die Gefühle waren wie eingefroren.

Ich habe darüber nachgedacht, das Tagebuch umzuschreiben, bzw. aus heutiger Sicht nachzuerzählen.
Wie fühlt man sich, wenn das eigene Kind im Sterben liegt?
Jeder Außenstehende wird sagen, dass ihm der Gedanke unerträglich ist, dass man das nicht überleben könne, der Schmerz unbeschreiblich sein müsste.

Wie es dann wirklich ist, darauf kann man sich einfach nicht vorbereiten.

Mein Geist oder meine Seele, was auch immer, haben sich für Selbstschutz entschieden.

Ich kam und komme nicht damit klar, wenn ich die Kontrolle verliere.

Der Tod meiner Söhne war der ultimative Kontrollverlust. Den ich bis heute nicht fassen kann. Er hat mich in einer Weise erschüttert, die ich nicht mal benennen kann.

Manchmal bricht mein Schutzpanzer.
Es geschieht unkontrolliert, unvorbereitet.
Gestern hatte ich mitten beim Einkaufen eine Panikattacke. Ich lief gerade zu den Kühlregalen und wollte mir einen Käse aussuchen. Ich merkte, dass mit mir irgendwas nicht stimmte. Mir wurde schwindelig, ich spürte wie mir Wasser im Mund zusammenlief. Meine Beine waren wie Gummi, ich sagte meinem Mann Bescheid, lehnte mich erstmal an einen Pfeiler. Ich drückte meine Handgelenke an die kühlen Wände. Wollte mich zurückholen in die Wirklichkeit, aus diesem schwammigen Zustand. Mir war übel, und ich wollte weinen, schreien, weglaufen.
Was mache ich hier eigentlich..?
Tränen stiegen mir in die Augen, mein Mann nahm mich erstmal in den Arm.
Wollen wir alles stehen lassen und gehen?

Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, wollte den Einkauf aber gerne durchziehen. Ich suchte mir wahllos Joghurt aus. Langsam fand ich wieder ins Hier und Jetzt.

Ich denke, solche "Ausbrüche" finden immer dann statt, wenn ich über meine Grenzen gehe. Oder sie nicht genügend achte.

2014 und 2015 wurden diese Grenzen wiederholt verletzt. Vieles konnte ich mittlerweile flicken, aber die Mauern sind nicht gerade solide.

Es ist so ein mühsamer Kampf, immer noch und immer wieder.

10 Tage nach meinem ersten Sohn, starb auch mein zweiter. Vielleicht werde ich das auch einfach nie fassen können. Weil es wirklich unerträglich ist.

Donnerstag, 25. Oktober 2018

Erik ist nun 4 Jahre tot

4 Jahre... es kommt mir vor wie eine Ewigkeit.

Dass ich seinen kleinen Körper im Arm halten, seine kleinen Händchen und Füßchen massieren durfte.

Ich höre das Piepen und Klingeln der Maschinen, rieche den eigentümlichen Geruch der Intensivstation, eine Mischung aus Desinfektionsmittel und Baby.
Es ist sehr warm dort, damit die ganz Kleinen auch außerhalb ihres Inkubators nicht frieren.

Es kommt mir vor wie ein Wimpernschlag.

Der 19. Oktober 2014 war, zusammen mit dem folgenden 29. Oktober, der schlimmste Tag meines Lebens.

Auch in diesem Jahr begann es wieder als trostloser Tag.
Ich verfluchte das schöne Wetter, ich war unruhig und wütend, ich fühlte mich unvorbereitet und unzureichend.

Am frühen Nachmittag ging es zum Friedhof, mit meinem Mann, meiner Freundin F. und meiner Schwester.
Da standen wir eine Weile, zündeten eine kleine herzförmige Kerze an, redeten ein bisschen, weinten ein bisschen.

Anschließend sollte es zu einer kleinen Feuerstelle an einem nahe gelegenen See gehen. Ich war besorgt, ob wir da auch ungestört wären, wollte ich doch in aller Ruhe meinen kleinen Zyklus der Elemente vervollständigen.
Wasser, Luft, Erde, und nun Feuer.

Wir fuhren hin, fanden die Stelle - und waren ungestört. Meine Freundin und mein Mann bastelten am Feuer, und ich entspannte mich etwas.
Ich las einen Brief für Erik vor, und abwechselnd legten wir kleine Herzen ins Feuer, auf die ich gute Wünsche für meinen kleinen Schatz geschrieben hatte. Zuletzt kam der Brief.
Funken stoben, und wir sahen zu wie das Feuer sich langsam beruhigte, bis es schließlich fast ausgebrannt war und wir es löschten.

Als Abschluss hatte ich mir überlegt, in ein Café zu fahren, und wir fuhren zu der Location in der ich vor fast 5 Jahren meinen 30. Geburtstag gefeiert hatte. Dort hat letztes Jahr ein nettes veganes Bistro aufgemacht, mit phänomenalen Torten und Kuchen.

Der trostlose Tag wurde ein tröstender, und im goldenen Licht der Herbstsonne fuhren wir wieder nach Hause.


Freitag, 5. Oktober 2018

Oktober

Der Herbst ist da.
Die Sonne leuchtet golden, die Blätter färben sich langsam bunt.

Dicke Wollsocken, Kuscheldecke, zu viel Schokolade und Tee.

Und wieder dieser Schleier aus Traurigkeit.
Ich bin dünnhäutig, sehr sogar. Versuche mich mit aller Kraft auf Arbeit abzugrenzen, manchmal fällt es mir wirklich schwer.

Mit der dunklen Jahreszeit kommen auch die dunklen Geschichten der Menschen vermehrt ans fahle Licht.

Neulich stand im Büro ein Paar vor mir, das sich mit dem baldigen Tod ihres Kindes konfrontiert sieht und schon mal etwas Infomaterial für die Zeit danach haben wollten.
Was bleibt, wenn das eigene Kind gestorben ist...?

Ich war ganz fassungslos, wie man so etwas fertig bringt.
Erinnerte mich unweigerlich an meine eigene Situation.
Wie tapfer man sein kann. Wie geradlinig. Wie stark.

Fast 4 Jahre später - noch immer mit vielen Tiefschlägen.
Es gehört wohl einfach dazu.
In den letzten Wochen hatte ich vermehrt mit Panikattacken zu kämpfen. Ich ertrage sie stoisch, rede mit mir selbst laut im Auto, dass alles gut sei und mir nichts passieren wird.

Es ist und bleibt mein ver-rücktes Leben, meine ver-rückte Zeit.

Wenn diese besondere Zeit heranrückt, insbesondere die Todestage von Erik und Paul, öffnet sich auch immer wieder ein Spalt zwischen Himmel und Erde.