Dienstag, 19. Mai 2015

Raus in die Welt

Wenn man ein Kind bekommt, ändert sich der Blick aufs Leben.
Wenn es dann nur kurz auf der Welt bleiben darf, ändert sich der Blick aufs Leben komplett.

Äußerlich ist alles gleich geblieben. Ok die Narbe, die ist schon fies. Aber die sieht ja kaum jemand.

Ich hab schnell wieder versucht, am Leben teilzunehmen. Nicht komplett verloren zu gehen.
Das ist schwer, wenn einen schon das morgendliche Aufstehen kräftemäßig überfordert.
Oder die Überlegung, was man denn am Abend essen möchte.

Eigentlich sind die ersten Wochen nur Überlebenskampf gewesen.
Absurd, wenn ich das so schreibe.
Es kommt mir lächerlich vor, wenn ich im Vergleich an den Überlebenskampf denke, den Erik und Paul leisten mussten. Wahrscheinlich darf man da nicht vergleichen.

Erste Treffen mit den engsten Freunden, ein erster Geburtstag, der mitgefeiert wurde. Dann kam ziemlich schnell Weihnachten, kaum auszuhalten, das sogenannte "Fest der Familie".

Auf der einen Seite die Geburt Christi, auf der anderen Seite der Tod der eigenen Kinder.
Besinnliches Beisammensein unterm Christbaum versus Friedhofsbesuch.
Ersteres haben wir dann auch komplett gelassen. Zu groß die Diskrepanz zwischen dem Schönen und dem Traurigen.

Nun, ein halbes Jahr später, startete ich einen weiteren Feldversuch und flog in die Ferne.
Lissabon sollte es sein und es war so völlig anders, als ich es mir erwartet habe.
Nicht nur, dass ich gefühlsmäßig durcheinander trudelte und so nah an meinen Söhnen dran war, wie lange nicht.
Auch körperlich bin ich lange nicht mehr so sehr an meine Grenzen gekommen.
Wer weiß, wofür es gut war.

Das ist sowieso eines der besten Dinge, die mir in den letzten Wochen gesagt wurden:
"Im Zweifel, immer machen."
Etwas machen, etwas tun, vorausblicken, zurückblicken. Überhaupt blicken.

Es ist so anstrengend, und gleichzeitig fühlt es sich irgendwie gut an. Anders gut.

Erik und Paul sind ein Teil von mir und werden es immer bleiben.
Ich möchte sie mitnehmen, überallhin.
Mit ihnen meine Welt zurückerobern.

Donnerstag, 14. Mai 2015

Gedanken zur Nacht

Ein leerer Bahnsteig.
Der Wein von eben wirkt wohlig nach.
Die Zigarette, ausgebrannt. Habe vergessen, warum ich überhaupt wieder damit angefangen habe.

Ich setze mich in den leeren Zug. Zuhause wartet ein leeres Heim. Es ist schon beachtlich, warum man immer weiter macht.

Ich denke an die Zukunft, an alles, was mich noch erwartet. Bin neugierig, wie sich das Leben, mein Leben, noch entwickeln wird.
Nachdem Erik und Paul gestorben waren, war ich der festen Überzeugung, dass ich auch bald an der Reihe wäre. Die Chronologie erschien mir unnatürlich. Was sie zweifelsohne ist.

Überall Kinder, Babies, Schwangere. Das natürlichste auf der Welt. Und ich irgendwo mittendrin. Ich glaube daran, dass es irgendwann auch wieder ein Leben für mich in der Natürlichkeit gibt. Der Weg dahin erscheint so unglaublich weit, und ich bin jedem dankbar, der mich auf dieser Reise begleitet.

Sonntag, 10. Mai 2015

Was war und was bleibt

Vor einem Jahr bin ich schwanger geworden. Dass es Zwillinge werden, hat mich völlig unvorbereitet getroffen.

Nach ungefähr einer Woche abwechselndem "Oh nein!", "Oh gott!" und "Wie sollen wir das denn schaffen?!" setzte sich die Neuigkeit etwas, und ich war aufgeregt und freute mich sehr.

Es war eine anstrengende Schwangerschaft, körperlich wie emotional. Ich musste mich viel schonen und selbst wenn ich unbedingt gewollt hätte, hätte ich vieles nicht gekonnt. So hatte ich mir das irgendwie nicht vorgestellt.

Trotz allem gab es auch ganz viele tolle Momente. Der stetig größer werdende Bauch, die ersten Babystupser... ein überwältigendes Gefühl, wenn da von innen Rabatz gemacht wird.

Leider endete die Schwangerschaft viel zu früh in der 25. Schwangerschaftswoche.
Ich kam mit Wehen ins Krankenhaus und die Geburt konnte nicht mehr aufgehalten werden.

Erik wurde am 5. September 2014 um 9:45 Uhr auf die Welt geholt, 29 cm groß und 675 Gramm schwer.
Paul folgte seinem Bruder 1 Minute später, war genauso groß und wog 620 Gramm.

Da bleiben einem fröhliche Rund-SMS irgendwie im Halse stecken.

Trotzdem waren mein Freund und ich auf eine seltsame Art und Weise optimistisch.

Auf der Frühchenintensivstation hingen an den Wänden lauter Collagen über Kinder, die mit dem Kampfgewicht einer halben Packung Mehl gestartet waren und es überlebt hatten.
Sogar richtig gut überlebt hatten. Pausbäckige kleine Gesichter schauten einem da von den Fotos entgegen, zuckersüße Kinder.

Unsere Jungs waren auch zuckersüß, aber von Pausbacken keine Spur.
Zarte kleine Wesen, Händchen so groß wie mein Daumennagel. Die Füßchen, die sich einem nur wenig größer, aber umso bestimmter entgegenstreckten.

Sie hatten Biss, die beiden. Und sie waren so tapfer.

So vieles mussten sie über sich ergehen lassen. Beatmungsschläuche, Magensonden, Zentrale Venenkatheter, Zugänge für Transfusionen.
Und Operationen. Erik war gerade mal 2 Wochen alt, als er am Darm operiert werden musste.
Paul hingegen hatte im Zuge einer Gehirnblutung eine erhöhte Hirnwassermenge. Um das zu regulieren, wurde ihm eine Art Kathether ins Gehirn gelegt.
Beides nicht untypisch für so kleine Menschen.

Die beiden kleinen Räuber nahmen leider überhaupt alles mit, was irgendwie ging.
Infektionen, Blutvergiftung, Pilze.
Uns erwartete beinahe jeden Tag eine neue Hiobsbotschaft.

Wir waren an den Grenzen unseres Verstandes angekommen.

Am 19. Oktober waren auch Eriks Grenzen erreicht.
Paul folgte ihm auch diesmal, 10 Tage später.
Wir wurden behutsam von den Ärzten und dem Pflegepersonal vorbereitet und umfassend begleitet, so gut es eben ging.

Da standen wir nun in der Nacht zum 29. Oktober und waren verwaiste Eltern.
Alle Pläne, alle Vorfreude, alle Zukunftsaussichten waren zusammen mit Erik und Paul gestorben. Der Glaube in einen selbst, daran, dass doch immer alles gut werden würde - verpufft.

Was bleibt, ist diese tiefe, bedingungslose Liebe in mir. So wie die beiden habe ich niemanden vorher geliebt.
Mutterliebe, das war vorher einfach ein Wort für mich.
Genauso wie Einsamkeit oder Leere, nur Wörter, die plötzlich wahrhaftig ausgefüllt wurden.

Ich sehe diese Liebe als Geschenk von Erik und Paul an mich. Etwas schöneres hätte ich mir nie wünschen können.
Ich hätte nur gern mehr Zeit gehabt, davon etwas an sie zurückzugeben.

Freitag, 8. Mai 2015

Ich will darüber reden.

Darüber, wie es so ist, mein neues Leben. Eines, das ich nie gewollt habe.

Ich heiße Tanja und bin verwaiste Mama von Zwillingen.

Mama von zwei Jungs, die viel zu früh geboren und viel zu früh gestorben sind.
Erik durfte 45 Tage auf dieser Welt sein und Paul 55 Tage.

BÄM. Sowas möchte niemand lesen. Diejenige zu sein, die es schreibt, deren Geschichte es ist, fühlt sich aber auch nicht bedeutend besser an.

Ich möchte diesen kleinen Blog meinen wundervollen Söhnen widmen.
Es gibt, auch wenn es für mich noch nicht so recht vorstellbar ist, anscheinend ein Leben nach dem Sterben. Ich komme nicht drumrum, es zu leben.

"Kneifen gildet nicht."

Deshalb möchte, deshalb muss ich erzählen, wie ich das bewerkstellige. Ich habe noch keinen Plan, stehe am Anfang eines neuen Abschnitts und bin noch lange nicht fertig mit "Scheiße!"-Schreien.

Erik und Paul sind nun seit über 6 Monaten fort. Ich vermisse sie. Es wird nicht besser, nur immer wieder anders.

Heute habe ich auf dem Nachhauseweg einen vollständigen Regenbogen durch den Regenschleier blitzen sehen. Und ich habe diese Idee gehabt.
Ein Tagebuch, ein Blog! Dokumentieren! Und wollte ich nicht eh eine Kamera kaufen..?

Mein Leben mit den Jungs im Herzen.

Ich will darüber reden. Ich habe mich lang genug versteckt.